Wanderwahnsinn oder die Fastfünfzigjährige, die in den Wald ging und verschwand


Seit ich im Frühjahr entdeckt habe, dass ein Teil des Jabobswegs (relativ betrachtet) ganz in unserer Nähe vorbei führt, ist eines klar: wenn schon nicht Santiago de Compostela, dann wenigstens Nydala. Das ehemalige Zisterzienser-Kloster gibt ein ausgezeichnetes Ziel für eine Probe-Pilgerwanderung ab. Um im schlechtesten Fall könnte ich mich jederzeit abholen lassen.

Von den Plänen erfährt außer meiner direkten Familie niemand. Nicht, dass es mir noch jemand ausreden will. Oder das ich kurz vorher kalte Füße bekomme… G. ist natürlich alles andere als begeistert. Kein Wunder, wo doch Extrem-Wandern mit unzähligen Gefahren verbunden ist.

Die Planung erweist sich als erste Herausforderung. Zwar gibt es einige Jugendherbergen entlang des Weges, aber die Preise sind mit 700-800 Kronen (für das Doppelzimmer oder die Mehrbett-Hütte – aber ich bin ja alleine unterwegs) ganz schön happig. Außerdem müssen die Distanzen zwischen den Übernachtungen stimmen. Ideal wär die Möglichkeit, ein Frühstück zu buchen und Bettwäsche zu leihen, um das Gewicht im Rucksack zu reduzieren. Die Alternative, Zelt und Schlafsack mitzunehmen, verwerfe ich ziemlich schnell. Ist in jeder Hinsicht nicht tragbar. Ich entscheide mich schließlich für die Variante Billig, Einfach und Schwer. Da ich an meiner ersten Schlafstelle weder Bettwäsche noch Frühstück bekommen kann, muss beides mit in den Rucksack, nebst dem übrigen Essen für 3 Tage und Wasser für einen Tag – zumindest das kann ich ja unterwegs auffüllen. Ansonsten kommt in den Rucksack noch ein Satz Wechselwäsche, falls man nass wir (nass geschwitzt bin ich jeden Tag), ein Regenponcho, 3 Schweizer Messer (eines hatte sich bereits im Rucksack verborgen und wurde erst unterwegs entdeck) sowie etwas zu viel Lesestoff.

Und dann geht es los. Gregor bringt mich zum gewünschten Ausgangspunkt und setzt mich an einem See bei der Wegmarkierung ab. Ab jetzt bin ich auf mich allein gestellt. Der Weg führt mich durch einen lichten Wald bis nach Storejör. Einen Ort, den ich in keiner Karte finden konnte. Jetzt weiß ich auch warum: es handelt sich um ein bronzezeitliches Gräberfeld. Dann stoße ich auf die Landstraße nach Moheda und folge dieser eine Weile. Irgendwo muss ein Feldweg nach Moheda abzweigen. Als ich auf eine andere Landstraße treffe ist klar, dass ich den Abzweig verpasst habe. Der Weg ist das Ziel, ABER NICHT DER UMWEG. Geht ja schon gut los, das mit den Markierungen. Und auch in Moheda selbst bin ich recht froh, dass ich mir den kompletten Weg aus dem Internet ausgedruckt habe. Wenn sich ein Weg nach rechts und links gabelt und die Markierung nach geradeaus zeigt, ist das nicht direkt zielführend. Hinter Moheda – das muss ich im Nachhinein zugeben – kann ich dann aber problemlos, den Markierungen folgen. Alles andere wäre schlecht, denn bei ca. 20 km Fußmarsch täglich, kann jeder Umweg das Aus bedeuten.

Mein Weg führt mich an einem kleinen Hofladen vorbei. Kurz dahinter mache ich Rast und leere die erste Halbliter-Flasche Wasser. Das könnte eng werden mit der Flüssigkeit. Also zurück zum Hofladen. Dort gibt es ausgesprochen feinen Cidre und noch einige andere Leckereien wie gefrorenen Elchbraten. Für den hab ich aber heute keine Verwendung, eine Flasche Cidre muss reichen.

Weiter geht’s an einer großen Kirche mit Gedenkstein für die Auswanderer der Gemeinde Åboda vorbei. Ansonsten ist die Gegend ziemlich verlassen. Auf der Landstraße hinter Slätthög hält dann plötzlich ein Auto neben mir und der Fahrer fragt, ob ich die bin, die in Gamleboda übernachten will. Jaså, denke ich mir, ist das in Gamleboda das Ereignis der Woche? Tatsächlich ist er derjenige, der mir den „hembygdsgård“ aufschließen wird. Ich bin spät dran, er muss noch die Schwiegermutter abholen und er meint, dass es noch an die 10 km sein werden. ZEHN KILOMETER???? Wir vereinbaren, dass ich kurz vor Ankunft anrufe. Gegen 18.30 habe ich mein Etappenziel erreicht.
Der mit dem Schlüssel kommt ist aus irgendeinem Grund verhindert, muss wohl noch die Schwiegermutter abholen und Kühe melken – ich verstehe von seinem durch die Zähne gepressten småländischen Dialekt mit Slätthögschem Einschlag nur so viel, dass der Nachbar in einer Stunde vorbeikommen und mir aufschließen wird. Ska det går bra? Aber klar, oder hab ich eine Wahl? Zeit, mit der Familie zu telefonieren, die überglücklich ist, dass ich den ersten Tag allen Gefahren trotzen konnte, die WM-Ergebnisse vom Viertelfinale abzufragen und einen Schwatz mit einem älteren Herrn vom benachbarten Bauernhof zu führen, der seinen Hund gassi führt. Schließlich kommt der Nachbar, nennt mir die Geheimzahl für das Zahlenschloss an der Rückseite des Hauses, damit ich in dem kleinen förråd an den Schlüsselsafe mit gleichem Zahlencode komme, zeigt mir Haus, Küche und Bad und versorgt mich mit Luftmatratze und Decken. Dann bin ich allein in einem alten knarzenden Haus mit einer Standuhr, die halbstündlich die Stunde schlägt. Das Obergeschoss mit seinem plüschigen Wohnzimmer im Stil der 60er Jahre und mehreren Kammern, die anscheinend als Lager oder Archiv für Schulmaterialien von der Jahrhundertwende bis in die frühen 50er dient, hat etwas leicht Schauriges. Wahrscheinlich spuken hier auch die Geister von kleinen Schulkindern, die noch die Prügelstrafe erlebt haben. Deshalb verbringe ich die Nacht lieber neben der Standuhr im Versammlungssaal im Erdgeschoss. Zunächst aber muss ich duschen. Was mir sofort auffällt: das Wasser riecht kräftig nach Eisen. Und sofort macht sich ein anderer Gedanke breit. Ich muss hier Morgen meine Trinkwasservorräte auffüllen. Auch wenn ich wie ein Kamel lange Durststrecken aushalte, bei diesem Wetter sind 1,5 l das Minimum. Das geht aber nicht, wenn das Wasser nach Eisen schmeckt und man sich für jeden Schluck überwinden muss. Aber wie so oft in solchen Häusern finden sich im Kühlschrank noch einige kleine Getränkepacks, die wohl von einem vergangen Fest übrig sind. Davon kann ich welche „kaufen“, d. h. ein paar Kronen hinterlegen, aufschreiben, was man genommen hat und gut. Die Nacht über lausche ich alle halbe Stunde der Standuhr. Obwohl mein Körper todmüde ist, dauert es bis in den frühen Morgen, bis ich etwas Schlaf finde.

Den nächsten Morgen gehe ich ruhig an, räume das bisschen auf, was ich benutzt habe und mache mich gegen 11.00 Uhr auf den Weg, nachdem ich alle wunden Stellen an den Füßen zugepflastert habe. Die schönen, neuen, teuren Wanderschuhe Marke Wolfspfote waren definitiv nicht lange genug eingelaufen.

Ein kurzer Schwenk beim Nachbarn, der mir gestern den Schlüssel gegeben hat, um nach dem Wasser zu fragen. Ja, es ist eisenhaltig und nein, es ist nicht gesundheitsschädlich und ja, wir benutzen den gleichen Brunnen und unser Wasser schmeckt genauso. Ich rede mir ein, dass das viele Eisen meine Erythrozyten ordentlich pushen wird. Einer Dopingkontrolle sollte ich mich heute vielleicht nicht unterziehen. Dass ich mir ein paar Getränke mitgenommen hab, ist auch in Ordnung „du hast aber hoffentlich nicht zu viel Geld hintergelegt?“, fragt die Nachbarin besorgt nach.

Es wird wieder früh warm, ich stapfe tapfer vor mich hin, heute, im Nachhinein, merke ich, dass ich Erinnungslücken habe. Irgendwo kommt ein riesiges Pfifferlingfeld. Dass ich die nicht mitnehmen kann, schmerzt fast mehr als die Blasen an den Füßen. Vor Lyåsa geht es stetig bergauf bis zu einer Hochebene mit den wahrscheinlich hübschesten roten Schwedenhäuschen und den blühendsten Bauerngärten Smålands. Fast erwartet man, dass jeden Augenblick der Michel oder Klein-Ida um die Ecke gerannt kommen. Von dort sind es noch einige Kilometer bis Flathalla, wo eine kleine rote Stuga für die Nacht auf mich wartet. So etwas wie eine Rezeption gibt es nicht. Alles Nötige wurde telefonisch besprochen, der Schlüssel steckte in der Tür und auf dem Küchentisch liegt ein Zettel mit dem Preis für die Nacht. Ich bin nicht sicher, ob ich noch den Warmwasserboiler anstellen muss. Aber das gastankähnliche Teil unter der Spüle sieht gefährlich aus und die Beschreibung, was im Falle einer Fehlfunktion zu tun ist, damit es nicht explodiert, trägt nicht zu meiner Beruhigung bei. Dann betrete ich todesmutig die 1,5 m² große Nasszelle – es Badezimmer zu nennen wäre euphemistisch – und … das Wasser ist warm.

Zum Abendessen gibt es heute Fussili Carbonara. Schön, was man heutzutage alles gefriergetrocknet und gewichtsreduziert in Tüten kaufen kann. Sehr praktisch für eine Wanderung. Anschließend gelingt es mir, trotz einer Auswahl von vier Fernbedienungen (und ich sehe nur zwei Geräte), dem Fernseher, der noch aus der Anfangszeit des Farbfernsehens zu stammen scheint, Ton und Bild zu entlocken, so dass ich mich am Abend über die aktuellen WM-Ergebnisse informieren kann. Pay-TV wäre in dieser einfachen Hütte zu viel verlangt, man empfängt die gleichen drei schwedischen Programme, die wir auch zuhause haben. Dann muss ich noch die schwierige Entscheidung treffen, in welchem der zwei Stockbetten in dem 5 m² großen Schlafzimmer ich schlafen möchte. Unten rechts scheint mir angemessen für diese Nacht. Die Matratze ist auch nur ganz wenig fleckig.

Der nächste Morgen bringt wieder strahlenden Sonnenschein, obwohl für den Mittag Regen angesagt ist. Und so zippe ich zeitig die Hosenbeine meiner schicken neuen Multifunktions-Wanderhose ab und schnüre meine Wanderschuhe für die letzte Etappe. Jetzt geht es über Landstraßen weiter. Lang, einsam und immer geradeaus am Ostufer des Rusken entlang. Könnte auch Westfrankreich sein. Etwa alle halbe Stunde werde ich von einen Auto überholt und gelegentlich winkt ein Fahrer der einsamen Wanderin zu. Ansonsten wird die Stille nur von Vogelgezwitscher unterbrochen. Nach einer Rast auf einem Bootssteg am Rusken leert sich der Rucksack allmählich und wird doch immer schwerer. Der Regen kommt nicht, dafür gibt der schwedische Sommer alles. 26 °C und wenig Schatten schreien nach Abkühlung. Meine Füße fühlen sich wund an, nach jeder Pause fällt das Weitergehen schwerer. Irgendwo kreuzt eine Rehmutter mit ihrem Kitz die Straße. Um die Mittagszeit bestelle ich G. für 14.30 Uhr zum Abholen an das Kloster Nydala. Obwohl ich so gut ausgeruht und frisch losgelaufen bin, schwinden meine Kräfte von Minute zu Minute. An einer Badestelle plantschen Kinder im See. Jetzt da reinspringen…. Aber stehen bleiben darf ich jetzt nur noch zum trinken. Sollte ich mich jetzt hinsetzen, wäre die Wanderung entgültig für mich vorbei. G. ist pünktlich am vereinbarten Ort. Ich bin es nicht. Deswegen kommt er mir entgegen. Etwa 2 km vor dem Ziel bin ich am Ende meiner Wanderung angelangt. Denn Rest bis zum Kloster legen wir im Auto zurück. Einmal durch die Kirche humpeln. Der schwere Rucksack, die Hitze und die schlecht eingelaufenen Schuhe haben meine Wanderung zu einer echten Herausforderung gemacht. Aber kalte Füße hab ich definitiv nicht bekommen!


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